Geschichte eines alten Delitzscher Gasthauses mit Hotel

Täglich mußten „Heerschlangen“ an der Linde vorbei

Geschichte des Hauses „Alte Kirchenbücher erzählen, daß etwa im Jahre 1600 den in Zschiesdorf-Spickendorf  wohnhafte Eheleuten Mertzsch, deren Namen nicht genauer überliefert sind, ein Knabe geboren wurde, ein Martin. Ein am 6. September 1676 verstorbener Christoph Mertzsch soll der Bruder Martins gewesen sein.“ Auf diesen Namen baut sich die Geschichte der Familie Mertzsch. Drei Jahrhunderte lang habe sich der Name in unveränderter Form erhalten, heißt es einführend im Stammbuch der Familie. Ihr ist es zu verdanken, daß das Hotel „Zur Grünen Linde“ samt der darin befindlichen Pizzeria ein beliebter Anziehungspunkt nicht nur für Touristen, sondern auch für Einheimische ist.

1886“Linde“ gekauft

Über vier Generationen läßt sich ein langer und  schwieriger Weg zurück verfolgen, im dem Wandel der Zeit angepaßt:
Er begann am 1. Oktober 1886, als August Mertzsch seinem Sohn Otto die Gastwirtschaft “Zur Grünen Linde“ in Delitzsch kaufte. In ihr befand sich zugleich eine Kolonialwarenhandlung. Ottos Bruder Artur sollte des Vaters Stammgut übernehmen. Diese Gastwirtschaft hatte bis dato einem Herrn Zeidler gehört. Selma Schröter, die Wirtschafterin des Hauses, gefiel Otto so sehr, daß er sie einige Monate später ehelichte.

Prächtiger Bau um 1900

Geschichte des Hauses 2 In den folgenden Jahren mußte sich die „Linde“ zahlreichen Bauarbeiten unterziehen. Am Stakenweg wurde angebaut und die Gastwirtschaft dort weiter betrieben, die alte „Linde“ wurde abgerissen, und um die Jahrhundertwende konnte ein stattlicher Neubau bezogen werden – das „Hotel zur Grünen Linde“.
Kurt, dem 1889 geborenen Sohn von Otto und Selma, übertrug der Vater im Jahre 1919 den Betrieb. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Vater 77 000 Mark Schulden, die Kurt innerhalb von 20 Jahren abarbeitete.

Auf Durstige gerechnet

Kurt war ein Optimist. Der Bahnhof lag ganz in der Nähe, und täglich mußten „Heerschlangen“ von Arbeitern die Bahn benutzen, um zur Arbeit zu gelangen. Da war es doch eine weise Voraussicht, daß alle diese arbeitenden Menschen auch mal durstig werden und die „linde“ – an einer wahren ²Laufstraße“ gelegen –besuchen würden.
Kurt hatte im Leipziger kaufmännischen Vereinshaus den Beruf des Kochs erlernt. 1928 baute Kurt eine Kühlanlage – eine Einmaligkeit bis dato in Delitzsch, die nicht gerade billig war. Doch mit Hilfe dieser Anlage konnte er Kühlräume bauen, Eisbomben einfrieren und Speiseeis selber herstellen. Tiefkühlmöglichkeiten waren also vorhanden. Mit seiner Großhandelserlaubnis bezog Kurt Mertzsch Wein fässerweise und füllte ihn ab. Seine Frau, eine Lydia Scharf aus Klitschmar, kam aus einer großen Landwirtschaft und daher nicht aus schlechtem Hause. Beide lebten nur für die Arbeit und kannten keinen Urlaub.
Ihre Kinder Ilse, Georg und Helmut schickten sie in den Ferien auf den Bauernhof mit zehn Pferden, mit Kühen und Schweinen. Der Bauer, ihr Onkel, war auch Bürgermeister. Die drei waren dort sehr glücklich.

Inclusive geputzte Schuhe

Das Hotel verfügte damals über 30 Betten. Eine Übernachtung kostete 2,50 Mark, und Frühstück war für eine Mark erhältlich. Helmut, der
Jüngste Sohn von Kurt, erinnert sich noch heute gern, wie sie als Kinder die Schuhe der Gäste einsammelten, mit Kreise die Zimmernummer draufschrieben und nach dem Putzen wieder zurückstellten. Und alles für 2,50 Mark.

Eigene Weltansicht

Geschichte des Hauses 3 Kurt Mertzsch war ein weitgereister Mann: Australien, Japan und Amerika. Durch seine Welterfahrenheit bildete er sich schon bald eine eigene feste politische Meinung, die gegen das Naziregime gerichtet war.
In der „Linde“ trafen sichviele Gäste, die politisch ähnlich wie Kurt gesinnt waren. Das brachte ihm oft Ärger ein. Auch weigerte er sich, ein Schild mit der Aufschrift “Juden nicht erwünscht!“ an seine Gaststätte anzubringen, da die Handlungsreisenden ja zu 50 Prozent Juden waren, die den Umsatz erhöhten.
Daraufhin wurde Kurt im Jahre 1941 von der Gestapo verhaftet, da er“…durch seine staatsfeindliche Einstellung gegen den Nationalsozialismus es duldet, daß sich in seinem Lokal reaktionäre Elemente zusammenfinden und ihre ablehnende Haltung gegen den heutigen Staat in Liedern und Äußerungen zu erkennen geben und indem er weiter sich selbst an diesem staatsfeindlichen Treiben beteiligt.² Ein guter Rechtsanwalt und viel Glück ersparten ihm das KZ.

Kurt hatte nichts zu lachen

Im Jahre 1945 sollte der Spuk endlich beendet sein. Doch ein Vierteljahr belagerten die Amerikaner das „Hotel zu grünen Linde“. Eine amerikanische Politeinheit, die ehemalige Nazis „aufpickte“ und in der Gaststätte verhörte, bezog das Lokal. Bis zum Frühjahr1947 lagerten sich dann russische Offiziere hier ein, bei denen Kurt auch nichts zu melden hatte.
1946 begannen im Kreisgebiet die ersten Enteignungen. Betriebe wurden unter Sequester gestellt, das heißt Banknoten wurden gesperrt und danach entschied man, ob enteignet wird oder nicht. Dieser Prozeß dauerte Wochen und war sehr belastend. Doch aufgrund des Schutzhaftbefehls blieb den Mertzschen´s die „Linde“ erhalten.
Nachdem die Besatzungsmächte aus seinem Hotel abgezogen waren, fand Kurt sich in einem „runtergelotterten“ Betrieb wieder. Er und seine Kinder Helmut und Ilsefingen ganz von vorne an. Seine Frau war indes verstorben.
1950 entstanden die ersten HO-Geschäfte. Man bekniete Kurt, er möge seine Gaststätte dieser Organisation überlassen, da sie zentral gelegen sei. Kurt war jetzt über 60 Jahre und hatte nicht mehr die Kraft, das Geschäft neu aufzubauen nach all den schrecklichen Erlebnissen.

Kinder in seinen Fußtapfen

Helmut und Ilse sind in seine Fußstapfen getreten. Beide haben Koch bzw. Köchin gelernt und wurden als Küchenchefs in der „Linde“ übernommen Nach sechs Monaten flatterte jedoch für Helmut und Ilse die Kündigung ins Haus: „Umstrukturierungsgründe durch Reorganisation“. In dieser Zeit war es üblich, daß Kinder in den elterlichen Betrieb weiter wirtschaften durften. Ein neuer Koch aus Torgau stand schon am Herd. Helmut sollte nach Aschersleben versetzt werden, doch er wollte sich diesen schwachsinnigen Kündigungsgrund einfach nicht gefallen lassen. Fazit: Ein Brief an den ersten Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck. Darin beschwerte sich Helmut: Eine Reorganisation sei kein bloßer Austausch von Köchen ist. Seine Schwester wurde  von der HO wieder eingestellt und als Küchenleiterin in der „Linde“ übernommen. Helmut suchte sich selbst eine Stelle.  Er war jung verheiratet, und ein Auto hatte er nicht, um nach Aschersleben fahren zu können.

Studenten löffelten Suppe

Er fand eine Anstellung an der Leipziger Universität: Koch in der Mensa. Dort kochte er zwei Jahre für 3000 Studenten, und 26 Jahre war er Küchenleiter. Danach wechselte Helmut wieder nach Delitzsch und betrieb in den folgenden zehn Jahren die Kantine in der Poliklinik. Dann nahte das Rentnerleben. Genau einen Monat konnte er es genießen, da kündigte die HO den Pachtvertrag über die „Linde“. Was machen? Seine Schwester, der die Hälfte des Geschäftsgrundstückes gehörte, war verstorben. Klare Verhältnisse galt es zu schaffen. Soe wurde der Besitz von damals knapp 4000 Quadratmeter dreigeteilt:Helmut nahm den großen Garten, Ilses Mann das Haus, und vom Geschäftsgrundstück hat Helmut seinen Anteil der Tochter Gabriele überschrieben. Gabi hatte in einem Hotel in Westdeutschland gearbeitet. Wolfgang Schlender, Gabrieles Freund, erwarb den anderen Teil.  Ein Zwischenpächter kam für Helmut nicht infrage, so mußte Gabi beim Aufbau des „neuen“ Geschäfts helfen. Am 28. Dezember 1990 pachtete sie zunächst die „Linde“, und seit  1.Juni 1991 ist Gabi mit Wolfgang Schlender Eigentümer von Hotel und Restaurant. Unter ihrer Leitung entstand 1992 die Pizzeria mit den renovierten und geschmackvoll eingerichteten Räumlichkeiten. Bleibt zu hoffen, daß sich auch die fünfte Generation bereit erklären wird, dieses historische Familienunternehmen weiterzuführen. –Katrin Guggenberger-